Lenzburg-Chronik

Die Folkfestivals auf der Lenzburg

fanden von 1972 bis 1980 jeweils am letzten Juni-Wochenende oder an den ersten Julitagen auf Schloss Lenzburg (Kt. Aargau) statt.

Weder war ich der Gründer der "Lenzburg" noch deren CEO oder PR-Manager. Das gab's gar nicht. Doch war ich von Anfang an immer dabei. Bis zum Ende und drüber hinaus. Als Musiker, als Helfer, Ideengeber. In den Jahren 1976 bis 78 habe ich das grosse Ressort 'Musik' betreut. Nach dem definitiven Ende der Lenzburg-Festivals wurde ich zu sowas wie dem Nachlassverwalter.

Das ist die Geschichte der Folkfestivals auf der Lenzburg. Des ersten, schönsten, einflussreichsten Festivals der Schweiz und weit drum rum. Erzählt von einem, der mittendrin war. Persönliche Geschichten inklusive ... die darf ich doch dazugeben, nicht? Ist ja meine Homepage. - Mir ist bewusst, dass niemand an einem Festival mit mehreren Bühnen, musikalischen Freiräumen und Tausenden von Menschen alles erleben kann. Andere haben andere Erinnerungen.
Ok, hier sind die Erinnerungen, noch mehr meine gesammelten Lenzburg-Fakten.

1972

Der Anfang war - wie vieles in diesen Jahren - von Spontanität und Idealismus geprägt. Dani Perret und Dick Watts vom British & American Folksong Club Zürich fuhren zu einem Konzert beim Folkclub Bern. Unterwegs auf der neuen Autobahn A1 sahen sie die malerische Lenzburg. Dani war ein Dudelsackpfeifer mit einer Vorliebe für vorwiegend schottische Schlösser. In Bern angekommen, schwärmte er vom Plan, auf der Lenzburg ein Folkfestival auf die Beine zu stellen. Chita Fricker, Initiant und guter Geist des Folk Clubs Bern, sagte zu. So fuhr Dani Perret zur Lenzburg hoch, war noch begeisterter als zuvor von diesem Ort. Ja, man konnte das Schloss für ein Musikfest mieten, der Schlossverwalter sagte zu.
Roli Ambühl gestaltete das erste Plakat. Dani war der Organisator, hängte die Plakate überall im Aargau auf, sein Bruder war der Kassier, Chita lud die Berner und Zugewandte zum Fest ein, sie holten auch Benno Kälin dazu, den Leiter der wöchentlichen Radiosendung 'Folk & Country'. Die Gebrüder Egmont und Beat Hohmann besorgten die Beschallung. Einzelne Gruppen aus St.Gallen, Lausanne und Basel wurden eingeladen, auch eine amerikanische Strassenmusik-Band, und das Folkfestival auf der Lenzburg war geboren.

Es wäre falsch zu behaupten, das Folkfestival Lenzburg sei nach amerikanischem Vorbild entstanden. Wir wussten vom Newport Folk Festival in den USA und natürlich von Woodstock. Treibende Kraft der Lenzburg waren die in den letzten Jahren neu entstanden Folkclubs im Land. Mit den Country Ramblers in Zürich und den Bluegrass Blossoms in Bern waren Bluegrass-Bands mit ihren 5-String-Banjos die Stars der Szene. Viele sangen Songs von Woody Guthrie, Dylan, Cohen, Tom Paxton. Doch in Zürich waren es einige British subjects, gestrandet bei ETH und Uni, die den Folkclub vorantrieben. In Bern waren wir ohnehin bunte Hunde, in Silvios Döschwo brachten wir einen grossen Kessel Bowle mit. Die St.Galler kreuzten mit Fiedel und sonstigem alten Gerät auf, und eben der Dani Perret, der eröffnete das erste Folkfestival mit seinem schottischen Dudelsack. Untermalt vom Trommler Dani Ambühl.

Lenzburg Nr. 1 am Sonntag, dem 2. Juli, war eine grosse Fete. Mit Publikum, ja, 800 an der Zahl, aber ohne Konzept und Kommerz. Im grossen Rittersaal wurden vom Mittag bis abends um 22 h Konzerte geboten. Die Auftritte waren kurz. Höchstens eine Viertelstunde lang. Draussen im Schlosshof, in den Erkern und auf den Mauern wurde frei gespielt und gesungen und gejamt.

Als Stars hatte Benno den Fernseh-Gitarrenlehrer John Pearse mit seiner Partnerin Olivia Lyons verpflichtet. Am frühen Abend zur Essenszeit sollten die Leute der Folkclubs von Bern und Zürich je einen Block spielen. Dann um 20 h eine Stunde lang John Pearse. Zum Abschluss die Stars der Szene, die Gruppen Skibbereen, Blue Grass Blossoms und Country Ramblers.
Das ging in die Hose. Folkclub Bern - das waren Chlöisu Friedli, der Bluespianist, meine Wenigkeit mit berndeutschen Songs, auch einem spontanen Lenzburg-Song, und Tinu Diem, Supergitarrist schon als Teenie. Wir erhielten tosenden Applaus. Desgleichen die Zürcher(innen), das Strassenmusik-Trio String Band und die 15 Strings Band aus Paris. Damit war der Dampf draussen. Bei John Pearse leerte sich der Saal. Viele gingen jetzt essen. Und kehrten auch nicht wieder zurück. Die armen Skibbereen begannen im halbleeren Saal. They were not amused. Den Bluegrass Blossoms zum Abschluss erging es kaum besser.

Übrigens: Das Wetter war toll. Die Sonne strahlte - wie immer während der nächsten vier Festivals.

1973

Das zweite Folkfestival war etwas grösser, immer noch eintägig. Auch im Schlosshof stand nun eine Bühne, man konnte bei gutem Wetter mehr Besucher einlassen. Wenn ich mich recht erinnere, lag das Belastungs-Limit für den Rittersaal bei 600 Personen. Man akzeptierte bei Schlechtwetter deshalb höchstens 900 Eintritte. Mit einer Bühne im Schlosshof und gutem Wetter konnte man 2400 einlassen. Das begann nun eine Rolle zu spielen. Folk war bei Leuten angekommen. Die Lenzburg war ausverkauft. Spätestens 1974 geriet sie an ihre Grenzen.

Vorab Benno Kälin war es ein Anliegen, eine Verbindung von Folk zur einheimischen Volksmusik zu schaffen. Carlo Brunner (Jungstar am Akkordeon) und Hans-Peter Treichler (Historiker und Volkslied-Interpret) traten auf. Hmm. Der Funke sprang nicht über. Auch wenn einige Bluegrassgruppen nun - mit ironischem Touch - 'Es wott es Froueli zMärit gah' oder 'Zoge-n am Boge' instrumental einstreuten. Mehr Erfolg hatten die Minstrels, damals durch ihren Hit 'Grüezi wohl, Frau Stirnimaa' schweizweit berühmt.
Von der britischen Insel kamen John James, Roy Bailey und Johnny Handle.

Ich selber trat in diesem Jahr erstmals zusammen mit Tinu Diem auf. Am frühen Nachmittag im Rittersaal. 'Chamäleon', 'Geier' und 'Es Gryfe nach em Wind'. Es lief gut. Und überhaupt - es war toll! Lenzburg-Wetter.

Im Gegensatz zum Vorjahr blieben die Zuschauer heuer am Abend im Schlosshof und waren um 22 h kaum heimzuschicken. Eine Aufgabe, die Benno Kälin übernahm. Und die an ihm haften bleiben sollte. Wer konnte das denn besser als ein erfahrener Radio-Sprecher? Nun ja. Benno startete die Schlossräumung stets ganz nett. Mit vernünftigen Erklärungen zur Nachtruhe. Drohungen, das Festival könne nicht mehr stattfinden, wenn man nicht ... Manchmal verlor er die Contenance. Damit war das Festival offensichtlich und defintiv beendet.


Der grosse Sprung nach vorn kam

1974

Zweitägiges Festival. Neben der Hauptbühne im Schlosshof und dem Rittersaal wurden Stapferhaus und Bergfried für Workshops und Kleinkonzerte miteinbezogen.

Mit der Musik, die wir von den britischen Inseln engagierten, hatten wir die Creme de la creme des Folk auf der Lenzburg. Planxty und Na Fili aus Irland, Leon Rosselson, Roy Bailey und der Pianist Paul Millns aus England, wieder der Waliser John James, dazu Pete Stanley und Roger Knowles aus den USA.

Planxty waren die neue Supergroup, die irische Folksongs über die Pub-Musik der Dubliners hinaushoben, wunderbare Songs, brillante Musiker an den Saiteninstrumenten und der Uillean Pipe, sie waren einfach hervorragend. Ob Christie Moore dank oder trotz seines erheblichen Alkoholpegels derart ergreifend sang, lasse ich offen. - Auf eine andere Art ergreifend waren die drei schon etwas älteren Männer aus Cork, die sich gälisch Na Fili (die Poeten) nannten. Getragene Slow Airs und alte Lieder in gälischer Sprache mit Uillean Pipe, Tin Whistle und Geige ... wenn da bloss dieser Hund mal seine Schnauze gehalten hätte. Ein halbes Dutzend Festivalbesucher hatten ihre Hunde auf die Burg mitgebracht. Darunter war einer, der unablässig bellte. Eine hohes Kläffen das ganze Wochenende über. Na Fili waren am lauschigen Sonntagabend besonders geplagt. Bandleader Tomas fragte vorerst ganz nett: Ob sich der Hund nicht mal eine Pause gönnen könnte? Später: Die Schweizer hätten anscheinend all ihre Hunde zu diesem Festival gebracht. Am Ende sagte er bei einem Solo des Geigers (Matt Cranich) an: Duett für Geige und Hund. So war es denn auch.

Erstmals erschienen die Höhepunkte der Lenzburg auf einer Doppel-LP. Ich hatte die Ehre, zusammen mit Luc Mentha mit der alten Täuferballade 'Dr Haslibacher' darauf vertreten zu sein. Auch mit drauf war 'D Ballade vo dr Münschter-Fähri' meines Freundes Aernschd Born, der Anfang einer Serie von sehr bemerkenswerten Poltitsongs.

Das Festival war jetzt weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt. Ein Grund dafür war seine einzigartige Atmosphäre auf dem mittelalterlichen Schloss.
Diese Einzigartigkeit hatte nicht nur Vorteile. Zum grossen Problem wurde der beschränkte Platz auf der Lenzburg, der sich beim besten Willen nicht ausdehnen liess. 900 Tickets im Vorverkauf (Schlechtwetter-Variante), bei gutem Wetter noch 1500 Tickets an der Tageskasse - das war zu wenig. Weil viele Tausend Ticket-Bestellungen eingingen, Tendenz steigend, musste man die Eintritte verlosen.

1975

Der innovative Banjoist Bill Keith aus den USA war dabei, mit ihm Derroll Adams, der kalifornische Fingerpicker Eric Schoenberg, Hannes Wader und Christof Stählin aus dem mehr oder weniger Norden, An Triskell aus der Bretagne, Pierre Bensusan aus Frankreich, aus England der Folk-Maestro Martin Carthy, Stammgast Roy Bailey und die Etchingham Steam Band, die neu gegründete Tanzband um das Paar Ashley Hutchings und die Sängerin Shirley Collins - sie Folksängerin der ersten Stunde, er Bassist von Fairport Convention und Steeleye Span.
Mein Highlight waren Rum mit ihren flämischen Traditionals. Ich hatte Rum an einem französischen Festival gehört und war schlicht begeistert. Ich musste sie einfach nach Bern in die Mahogany Hall und zum Folkfestival Lenzburg einladen! Das klappte zum Glück, meine Berner Folkfreunde schenkten mir das Vertrauen, ohne die drei Belgier jemals gehört zu haben. Sie waren grossartig. Für uns eine Inspiration, sowohl in der Art, ihre Songs zu präsentieren, wie auch im Arrangement traditioneller Lieder und Stücke. Rum waren in der Folge mehrmals in der Schweiz, wir spielten umgekehrt zweimal in Belgien. Wir wurden gute Freunde, und ich bin bis heute ein grosser Liebhaber flämischer Lieder.
Liedermacherei war in. Und die regionalen Bands begannen sich nun intensiv der alten Lieder und Tänze, auch der alten Instrumente anzunehmen. Inspirationen kamen u.a. auch aus dem Elsass, vom Géranium und Folk de la Rue des Dentelles. Wieder versuchte vorab Benno Kälin Kontakte zu volkstümlichen Musikgruppen herzustellen. Im Vorjahr waren's die Rigi-Hundsbuechmusig mit Efeublatt, Löffeln und Besenstecken und eine Appenzeller Streichmusik gewesen, diesmal die Walliser Gebrüder Volken mit Vierhand-Hackbrett. Das war sicher nicht schlecht, doch blieb die unsichtbare Wand zwischen den Folkies und den Trachtenleuten bestehen. Bis ...
Ja, das war eine wunderbare Szene am Sonntagnachmittag. Kein Slapstick-Filmemacher hätte das besser drehen können.
Also: Auf der Hauptbühne singt Aernschd Born, mittlerweile bekannter Politsänger. Seine Lieder begeistern das Publikum, doch seine Viertelstunde ist schon überzogen. Aernschd muss die Bühne räumen. Er sagt: "Ich singe hinten auf dem Rasen weiter. Kommt doch mit mir!" Dort hinten steht eine improvisierte kleine Zeltbühne, die Pfuri, Gorps und Kniri aufgebaut haben. Allgemeiner Exodus. Der Schlosshof leert sich. Auf die Hauptbühne kommt die Kapelle Mythenholz. Zwei Örgeler und ein Bassist in weissen Leinenhemden mit roten Halstüchlein. Ihre ersten beiden Stücke sind unscheinbare Ländler. Doch dann folgt die Show des bärtigen 100-kg-Manns am Bass. Er tanzt. Einen ziemlich wilden Werbetanz. Kasatschok-ähnlich. Die Bühne donnert und bricht fast ein unter seinen Sprüngen. Höhepunkt ist sind Sprünge über sein "Fazenettli", sein in beiden Händen gehaltenes rotes Tüchlein. Unglaublich, diese Wendigkeit! Grosses Staunen, tosender Applaus. Und die Hundertschaften, die eben den Hof verlassen haben, strömen zurück, wollen das auch sehen.
Domini Marty, der so sportliche Bassist, hatte sein politisches Heu auf einer ganz anderen Bühne als Aernschd Born. Im Jahr darauf hat er übrigens bei unserem Bubenberg-Fest auf Schloss Spiez tatsächlich die Bühe durchbrochen. Er warb für Milka und auch gegen Überfremdung. Dieser Nachmittag auf der Lenzburg mit zwei so verschiedenen Menschen war magisch. Die ganze Bandbreite der Lenzburg in fünf Minuten.

Unvergessen bleibt auch der Affe. Nach den Problemen mit Hunden im Vorjahr wurde für künftige Festivals ein Hundeverbot kommuniziert, abgesehen vom grossen schwarzen Hund des Schlosswarts, Herrn von Arx, der hier heimisch und eine Art Lenzburg-Maskottchen war. Doch nun brachte die welsche Gruppe Bazoche einen Affen mit. Aufregung an der Kasse. Unser strammer Kassier Helmut wollte das Tier nicht einlassen. Die Künstler reklamierten: Erstens sei das kein verbotener Hund, sondern eben ein Affe, und zweitens sei der festes Mitglied der Band. Ohne ihn würden sie nicht auftreten. So kam der Affe rein. Sein Besitzer kettete ihn an den Ast des Baums zwischen Bühne und Bandroom.
Da hockte dieser Affe nun den ganzen Tag über, manchmal ruhig, manchmal mit Geschrei. Er war keineswegs menschenscheu und hatte eine Vorliebe für Langhaarfrisuren aller Art. Da ergriff er die - auf der Lenzburg zahlreichen - Gelegenheiten beim Schopf.
Das OK erliess für künftige Festivals ein Affenverbot.

Ich war mit Tinu und Luc wieder mit einer alten Ballade auf der LP vertreten. 'Der Herr von Falkenstein'. Zudem mit 'Don Quijote', einem Selfmade-Song, im zweiten und letzten Filmchen, das vom Schweizer Fersehen an einem Lenzburg-Festival gedreht wurde.

1976

Die alljährliche Auslosung von Vorverkaufstickets zum Lenzburg-Festival aus einer Masse von Bestellungen war für die Folk-Fans eine Zumutung. So waren wir froh, dass in diesen Jahren anderswo Folkfestivals mit ausgedehntem Gelände entstanden. Z.B. auf dem Bachtel (1975), in Nyon (1976), ab 1977 auch unser Geschwisterfestival auf dem Gurten bei Bern. Mit dem waren wir durch Chita Fricker personell verbunden. Der Gurten fand jeweils am Wochenende nach der Lenzburg anfang Juli statt. Diese neuen Festivals waren nicht Konkurrenten der Lenzburg. Im Gegenteil. Sie waren für die Folkbewegung nötig.
Nun wird sich niemand darüber wundern, dass die Lenzburg unter diesen Festival die Rolle der Kirchenmaus einnahm. Finanziell, meine ich. Geringere Zuschauerzahlen als andere, auch keinerlei Sponsoring. Im Gegenteil. Wir hatten dem Kanton Aargau noch die Schlossmiete zu bezahlen. Da flog z.B. das Bachtel-Festival einen einzelnen Blueser aus Chicago zu einem Preis ein, der das gesamte Budget der Lenzburg ausmachte. Auf der Lenzburg arbeiteten alle gratis. Vom OK über den Platzarzt und alle Helfer bis hin zu den Musikern. Richtig gehört: Die Musiker erhielten Gratiseintritt und Verpflegung für sich und Begleitung. Dazu gab's ein Musikerfest am Freitagabend - und das war's dann.
Den Gastmusikern, die wir aus ganz Europa einluden, bezahlten wir immerhin ihre Reisekosten und sorgten (meist privat) für Unterkunft und Verpflegung, während wir für sie weitere Konzert-Engagements vor und nach dem Lenzburg-Weekend organisierten. Am Gurtenfestival z.B., sodass sie doch einigermassen auf ihre Rechnung kamen.

Wir wollten unsere Idee eines Jahrestreffens der Folk-Szene, mit dem wir 1972 gestartet waren, aufrecht erhalten. Möglichst viele Musiker sollten auf der Lenzburg dabei sein, sich austauschen und eine Viertelstunde lang auf der Bühne ihre Neuheiten präsentieren können. Jeweils 75-80 Bands konnten wir im Lenzburg-Programm unterbringen. Das ergab wiederum eine Schar von 400 Musizierenden, Begleitpersonen und HelferInnen. An kommerziellen Kriterien gemessen war die Lenzburg wohl das reine Desaster.

Die Beschränkung der Burg hatte auch einen grossen Vorteil:
Wir mussten keine Publikumsmagnete engagieren. Die Lenzburg war sowieso ausverkauft und überlaufen. Wir konnten hierzulande unbekannte Bands einladen, die die Volksmusik und -lieder ihrer Regionen in einer Weise umsetzten, die wir schlicht gut und als inspirierend fanden. Da kamen Folkgruppen aus Skandinavien, Flandern, Friesland, der Bretagne, aus allen Regionen Italiens. Und ja: Wenn eine tolle US-Newgrass-Band gerade auf Europatournee war, nahmen wir auch diese Gelegenheiten wahr. Wir waren keine Kostverächter.

1976 wurde die Volksliedsammlung 'Im Röseligarte' neu aufgelegt. Die bekannten Singbüchlein waren geschmackvoll zusammengestellt, aber eben im bäuerlich-patriotischen Geist der Jahre vor dem 1.Weltkrieg. Wir brauchten für die Folkbewegung die anderen Lieder: Legenden, Balladen, Lieder der Arbeiter, der Armen, der Aussenseiter, historische Lieder. Ich machte mich an die Sammlung. Musiker auf der Lenzburg unterstützten mich mit ihren Funden.
Doch der 'Röseligarte' war ein Zeichen, dass Folk beim Volk angekommen war. Kommerziell interessant wurde.
Im Vorjahr waren die Bauarbeiten zum AKW Kaiseraugst nach einer elfwöchigen Besetzung des Geländes abgebrochen worden, Aernschd Born hatte die Ballade dazu geschrieben. Der Vietnamkrieg war endlich beendet. Der schreckliche Nixon war weg, auch sein bekloppter Nachfolger Ford, geschlagen von einem demokratischen Aussenseiter. Leonard Cohen, Joni Mitchell, Neil Young, James Taylor und natürlich Bob Dylan waren Star-Songwriters, George Moustaki in Frankreich, Fabrizio De André und Paolo Conte in Italien, irische und bretonische Musik war in, ganz besonders der Harfenist Alan Stivell. Hannes Wader war der deutsche Superstar. Wolf Biermann war der DDR so wichtig, dass man ihn dort ausbürgerte. Hohezeit der Liedermacher, Hohezeit des Folks. Klubs, Feste und Festival schossen wie Pilze aus dem Boden. Das war eine neue Lebens- und Musikkultur. In ihrer ganze Breite zwischen Bildern und Liebe, Träumen, Protest, Suche nach Wurzeln, Tanz im Grünen. Wir meinten, die Discosounds, der Glitter-Rock und das Abba-Geträller im Fernsehen seien bedeutungslos. Die letzten Zuckungen von Unterhaltungsbrunz, um Tinu Heiniger zu zitieren.

Die internationalen Gäste auf der Lenzburg 1976 waren neben dem Dauergast John James die Newgrass-Band Southbound, das Ensemble Catalin Tarcolea aus Rumänien, Lillebjørn Nilsen und Steinar Ofsdal aus Norwegen, La Claque Galoche aus der Auvergne, die Zwillinge Hein und Oss Kröher aus Pirmasens und Almanacco Popolare aus Italien.

Bei einigen Wetterstationen war der Sonntag, 4. Juli 1976, der heisseste Tag seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Sonne brannte unerbittlich auf den Lenzburg-Rasen. Platzarzt Peter Diem war an diesem Wochenende im Dauereinsatz. Er zählte über vierzig Sonnenstiche.
Auch den Instrumenten setze die Sonne zu. Saiteninstrumente waren innerhalb weniger Minuten hoffnungslos verstimmt. Je mehr Saiten, desto schlimmer. Harfen, Hackbretter und Hardanger-Fiedeln waren gesundheitlich ernsthaft bedroht. Unsere rumänischen Gäste mit ihrem Zymbal klangen virtous, aber spätestens ab dem dritten Stück zunehmend kakofonisch. So entschied sich unsere LP-Auswahl-Crew für den Jahrgang 1976 bloss für eine einfache statt einer Lenzburg-Doppel-LP, worauf vermehrt Aufnahmen von kühlen Nebenbühnen zum Zug kamen. Oder ein Vogelruf, ein norwegisches Flötensolo, ganz saitenfrei.
Sonntag, der 4. Juli, war der grosse Lenzburg-Tag des Multitalents Andy Vollenweider. Über Mittag spielte er mit Poesie und Musik anfangs eine wilde Geige, dann Spinett, Flöte und erstmals auch Harfe. Am Abend sprang er bei Walter Liethas Im Bode Band als Saxofonist ein, übernahm auch die Blues Harp, den folgenden Auftritt von Mandala krönte er zu Dani Fehrs Cymbal mit einer virtuosen eigenen Flötenkomposition.

In diesem Jahr übernahm ich im Lenzburg-OK das Ressort Musik. Meine Aufgabe war die Ausschreibung an die Musiker. Einforderung von Probe-Kassetten. Auswahl der Auftretenden. Programmgestaltung: Wer soll wo und wann auftreten. Information an alle.
Die Nachfrage nach Auftritten war trotz fehlender Gage und engem Zeitlimit enorm. Über 120 Demo-Kassetten wurden eingesandt. Dazu kamen Musiker, die uns von LPs und Auftritten her bekannt waren. Alles in allem höchstens in etwa 75 konnten wir im Programm platzieren. Selbstverständlich traf ich die Auswahl nicht allein. Der Karton mit den Bändchen wurde an 3-4 weitere Juroren quer durch die Schweiz geschickt. Die mussten ihn jeweils nach einer Woche weitergeben. Vordigitales Zeitalter eben. 20 Bändchen pro Tag abhören und bewerten - wohl bekomm's! Ein Vollzeitjob.
Man könnte meinen, die abschliessende Programmsitzung der Jury sei ein Kinderspiel. Punkte zusammenzählen, der Cut ... War aber nicht so einfach. Weil die meisten Juroren so nett waren, guten Gitarristen die Höchstnote 4 zu geben, hätte der Cut ein arg monotones Festival ergeben. Solo- und Duointerpretationen vorwiegend bekannter Tunes. Sobald eine Stimme dazukam, erst recht eine unenglische, gefiel dem einen oder anderen Juror der Gesang oder der Text nicht. Auch grössere Bands und unbekannte Klänge drohten irgendwo anzuecken. Man musste im Zweifelsfall Innovation und Originalität, die Aussagekraft, die Poesie würdigen, technische Mängel verzeihen, um ein abwechslungsreiches Gesamtprogramm zu schaffen, die Stärke der Lenzburg, und nicht in repetitiver Perfektion zu ersticken.

(Im Einvernehmen mit dem OK) traf ich eine Entscheidung, für die mich einige Leute hassten: Diejenigen Musiker, die an allen bisherigen Festivals auf der Hauptbühne gestanden hatten, sollten in diesem Jahr mit einer Nebenbühne vorlieb nehmen. Spontane Sessions auf dem Gelände waren ohnehin immer willkommen. Das betraf die Country Ramblers, die Bluegrass Blossoms, George Tempest, aber auch mich selbst und meinen Kumpel Tinu Diem. Ein Bruch der Routine. Einige böse Worte gab's. Doch angesichts der Bruthitze waren die Kleinkonzerte in kühlen Räumen sogar ein Segen, während sich die armen Kerle auf im Schlosshof an ihren heissen Instrumenten die Finger verbrannten.
Ein weiterer programmatischer Entscheid war die Platzierung der Newgrass-Stars Southbound als Eröffnungs- und dann noch einmal als Abschluss-Band des Festivals. Böses Blut bei der Bluegrass-Gilde. Da könnten ja Besucher zu spät eintreffen und dann wieder früh aufbrechen wollen, und damit Southbound verpassen. Ja. Andererseits war es - in Anbetracht des beschränkten Platzes - doch ein Ziel, die volle Länge des Festivals auszuschöpfen. Das Schloss möglichst schon am Samstagmittag zu füllen und es am Sonntagabend mit einem Höhepunkt zu beschliessen. Die Hitze führte dazu, dass die Newgrass-Band mit ihren vielen Saiteninstrumenten mit ihren Randzeiten gut bedient war.
Einen Entscheid bereue ich aber. Für Samstagabend platzierte ich Jürg Jegge auf der Hauptbühne. Endlich wurde es etwas kühler. Die Folkies erwachten aus der Sonnen-Lethargie und wollten tanzen. Reigentänze mit wehenden Röcken. Da war der damalige "Lehrer der Nation" der denkbar schlechteste Soundtrack dazu. Sorry Angel, sorry so.

1977

Da muss ich die Story von Gösgen erzählen:

DIE LENZBURG UND DER PROTEST GEGEN DAS AKW GÖSGEN

Wir hatten für die Lenzburg '77 ein Schwerpunktthema 'Politisches Lied' festgesetzt und dazu neben dem Basler Aernschd Born auch Walter Mossmann aus Freiburg und Gerd Schinkel aus Bonn eingeladen. 1-2 weitere sollten folgen.
Nun planten die AKW-Gegner nach der erfolgreichen Besetzung des Baugeländes von Kaiseraugst (April 1975) eine Besetzung der Zufahrtsstrasse zur Baustelle des AKWs Gösgen. Grosser Protestmarsch zum Gelände, grosses Fest samt Festzelt am Abend. Als Termin für die Besetzung suchten sich die Organisatoren kurzfristig ausgerechnet den 25. Juni aus - den Samstag des Festivals auf der Lenzburg. Einwände wegen der Terminkollision wurden mit der in solchen Fällen üblichen Begründung abgeschmettert: Die Publika würden sich kaum überschneiden. Dabei liegt Gösgen nur gerade 20 km von der Lenzburg entfernt. Der gewaltfreie Widerstand gegen Atomkraftwerke war eine Volksbewegung, mit der sicher eine Mehrheit des jungen Lenzburg-Publikums sympathisierte.
Anruf von Aernschd: Er könne nicht auf die Lenzburg kommen. Walter Mossmann ebensowenig. Wenn Tausende zu einem AKW marschierten, könne er doch nicht wenige Kilometer daneben auf einem Schloss Demo-Lieder singen!
Das Lenzburg-Programm war aber schon im Druck samt Aernschd, Walter und Schwerpunktthema. - Wir überlegten ein wenig hin und her und fanden eine Lösung: Die geografische Nähe der Veranstaltungen könnte zum Vorteil für beide werden. Die 'Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst' hatte vor, am Abend vor dem Gösgen-Gelände ein Festzelt aufzubauen. Kulturelle Darbietungen sehr willkommen, ebenso Menschen, die dort übernachten würden. Aernschd sprach mit den Organisatoren. Sie boten einen Shuttle-Dienst zwischen der Lenzburg und Gösgen an. Der Plan: Aernschd trat auf der Lenzburg am frühen Samstagnachmittag auf, kam auf den Marsch gegen Gösgen zu sprechen. Er erzählte vom geplanten Festzelt und lud die Musiker - die nicht am Abend auf der Lenzburg im Programm standen, versteht sich! - ein, dort ein Gastspiel zu geben. Zudem sei, wer wolle, zum Übernachten eingeladen. Synergien. Alles freiwillig und nicht zum Schaden des Festivals.

Als wir - Lenzburg-OK und früh angereiste Musizierende - am Freitagabend in der Mehrzweckhalle im Städtchen übernachteten, hatten wir dort Gesellschaft. Früh morgens legten sie ihre Einsatz-Uniformen an: Hunderte Polizisten, wie die Wäppchen zeigten: aus einem Dutzend Kantonen. Ein Grossaufmarsch. Das liess für den Marsch auf Gösgen nicht Gutes erahnen.
Aernschd liess sich nicht beirren. Er sang auf der Hauptbühne zwei, drei Lieder und verkündete dann den Plan für den Abend. Grosse Fete in Gösgen. Shuttle-Bus. Musiker könnten sich bei ihm anmelden. Er fand viel Zuspruch.
Im Laufe des Nachmittags trafen schlechte Nachrichten aus Dulliken und Däniken ein (vor-Handy-Zeit - alles tropfenweise vom Hörensagen). Der grosse Demozug sei bereits auf dem Anmarsch von einem nie zuvor gesehenen interkantonalen Aufgebot von geschätzten tausend Polizisten in Kampfmontur gestoppt und zurückgetrieben worden. Tränengas. Flucht. Kein Festzelt. Kein Zeltlager.
Aernschd wollte diese bad news verkünden, hatte aber ein Problem. Das Programm auf der Lenzburg war so dicht gedrängt, dass sich darin keine Lücke fand, umso mehr als sich Aernschd verpflichtet fühlte, laufend über die Ereignisse in Dulliken zu berichten. Aernschd musste die Auftretenden anfragen, ob ihm jemand von seinem Set die Zeit für die Gösgen-Berichterstattung abtreten wolle. Im Rittersaal gewährte ihm ausgerechnet die Husmusig Jeremias Gastrecht. Die ausserordentliche Volksmusikgruppe hatte das Publikum voll im Griff, es wurde wild getanzt, als Aernschd das Mikrofon ergriff. - Das Tanzvolk hörte sich die Mitteilung an, wurde aber kribbelig und zunehmend ungeduldig, als Aernschd - ehrlich und tief betroffen - länger und länger wurde. Einige Tänzer begannen ihn abzuklatschen. Ein Pfiff. Aernschd fand seine aktuelle Botschaft viel wichtiger als Ländler und Tanzen und tat dies auch kund. Pfiffe und Buhrufe. Zunehmend, bis die Jeremiasse weitermachten.
Das erzkonservative 'Aargauer Tagblatt' hieb in einem Kommentarkästchen auf das Folkfestival ein. Es sei zu einem Politrummel umfunktioniert worden, extremistische Schlachtberichte und Greuelmärchen aus Gösgen und Gazetten "linksaussenster" Provenienz seinen verbreitet worden, man habe Hilfstrupps zur Kernkraftwerk-Besetzung organisiert. - Bullshit. Doch der kantonale Schlossverwalter nahm die Polemik für bare Münze, reagierte erschreckt und verlangte ein Verbot politischer Äusserungen auf dem Schloss, sonst würde dieses nicht mehr ans Folkfestival vermietet.
Die Drohung trug schon eine Woche später beim 1. Folkfestival auf dem Gurten Früchte. Wieder eine Gross-Demo gegen Gösgen, wieder ein massiver Polizeieinsatz, diesmal sogar mit Gummigeschossen. Auf dem Gurten stand ich zu dieser Zeit zusammen mit Tinu und Luc auf der Hauptbühne. Der GAK-Mensch berichtete mir davon. Der Bühnenchef schnauzte mich an: "Keni politische Üsserige!, süsch steue mer ds Mik ab!". Ich sagte nur - aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.

Aktuelle politische Berichte auf der Bühne waren ebenso neu für die Lenzburg-Festivals wie auch Pfiffe und Missfallenskundgebungen aus dem Publikum. Allen verschiedenen Vorlieben zum Trotz war die Lenzburg ein Ort des gegenseitigen Respekts und der Toleranz. "Preserving the old ways from being abused, protecting the new ways for me and for you - what more can we do?" (The Kinks: Village Green Preservation Society). So war das Geschehen um den 'Herold von Gösgen' sicher eine Schlagzeile und Diskussionen um Grenzen der Folkmusik wert.
Doch, nicht zu vergessen: Das 6. Folkfesival auf der Lenzburg hatte viel Gutes und Neues zu bieten.
Da waren die Watersons, die superbe acappella-Gruppe aus Nordengland, Mike, Lal und Norma Waterson und deren Mann Martin Carthy, der auch solo ein Top-Folksinger war. Die Institution Roy Bailey durfte nicht fehlen, Kolinda kamen aus Ungarn. Moin und die Tonschusser aus Deutschland waren toll. Vielleicht eben gerade, weil sie nicht so ganz deutsch klangen - die einen sangen platt, die andern boarisch.
Auf dem Programm stand auch die Hamburger Mittelalter-Rockband Ougenweide. Die gaben aber auf, als sie sahen, wie tief unten am Schlossberg sie ihren Laster entladen müssten, wie da noch 30 Höhenmeter mit Karren und Hebekran anstünden. Sie traten am folgenden Wochenende am 1. Gurtenfestival auf. Bei prächtigstem Wetter übrigens.

Der Nicht-Auftritt hatte noch einen anderen Grund: Das Wetter eben. Erstmals hatten wir auf der Lenzburg ein ernsthaftes Wetterproblem. Am Samstag gegen Abend mussten wir das Hauptbühnenprogramm in den Rittersaal verlegen. Der Sonntag war wechselhaft, doch so nass, dass man die grösseren Gruppen mit ihrem Instrumentarium nicht im Freien einplanen könnte. Das Programm stand Kopf. Für einmal wurde der Schlosshof mit der grossen Bühne zum Territorium von flexiblen Strassenmusik- und Tanzgruppen, die sich zwischen den Regengüssen hinauswagten und ihre Sachen bei Bedarf rasch wieder einpacken konnten. Im Rittersaal drängten sich die Leute eng zusammen.

Höhepunkt der Wochenendes war die Husmusig Jeremias vo Bärn.
Im Sommer des Vorjahres hatte ich an einem Bernfest bei einem Altstadtbrunnen drei ältere Mannen in blauer Tracht gesehen. Sie musizierten sehr schön, Volksmusik mit einer glasklaren sanften Geige. Ich kaufte ihnen eine Platte ab - Husmusig Jeremias vo Bäup - und fragte den Geiger an, ob sie mal zu einem Folkfestival kommen möchten? Zum Buebebärg-Fest, vielleicht im nächsten Jahr auf die Lenzburg. Ja, er wollte. Über die Entwicklung der Husmusig Jeremias konnte ich nur staunen. Märku Hafner - so hiess der Meistergeiger - begann mit jungen Musikern aus der Folkszene zu musizieren. Mit Hackbrett, Halszither, Cello. Nach einigen Monaten liess er sich frühpensionieren und setzte ganz auf Konzerte an Festen und Festivals, vor allem aber auf Strassenmusik. Seinem Stil blieb er treu: Er schöpfte aus einem grossen Vorrat von etwas queren traditionellen Schweizer Tänzen, mit der Zeit kamen Melodien der Fahrenden dazu.
An diesem Lenzburg-Festival (und danach auch auf dem Gurten) war die Husmusig Jeremias der Publikumsmagnet. Sie wurden nicht müde, ihre wunderschönen Tänze - Walzer us dr Rosezyt, Zupfgyge-Schottisch u.a.m. - auch abseits der Bühne zu spielen. Ein schnelles Bravourstück auf der Geige wurde zum echten Lenzburg-Hit: der 'Parsenn-Schuss'. In den folgenden Jahren dutzendfach in Folk-Repertoires aufgenommen. Da hatte man nun die so ersehnte Fusion von Folk und Volksmusik!

Erinnerung an einen sehr schönen und interessanten Hackbrett-Workshop und die nachfolgende grosse Session im unteren Rittersaal. Appenzeller Hackbrett (Töbi Tobler), Eigenkonstruktion von Chrigu Schwander, diatonisches bayerisches Hackbrett (Renate Greifenstein) und Zymbal (Dani Fehr).

Die Doppel-LP produzierte man erstmals zusammen mit dem 1. Gurten-Festival. Wir waren darauf mit dem 'Dräckigs Gschir Blues' vom Gurten vertreten.

1978

reisten aus der Ferne an:
Die Albion Band (GB), die Bretonen Dan Ar Braz und An Triskell, die Teatrogruppo di Salerno (I), La Lionetta und Prinsi Raymund aus Turin, die Fraunhofner Stub'nmusi und die Tonschusser (München), Ina Deter und Klaus der Fiedler mit Freuden (D) und die Kantele-Spielerin Anna Liisa Arakangas (FIN). - Die Albion Band, das neue Projekt von Ashley Hutchings, nun elektrifiziert und verstärkt durch den Melodeonspieler, Songwriter und Sänger John Tams. Auch Dan Ar Braz spielte elektrisch und reiste mit ordentlich viel Material und Roadies an.
Ich möchte erwähnen, dass auch etliche Schweizer Gruppen mittlerweile ein beachtliches Level erreicht hatten und das Festival bereicherten - immer noch zum Nulltarif. Ich denke an Adrian Naef, Mandala, Tobermit, Linnenzworch, Tinu Heiniger, Hoity-Toity, Werner Widmer, Zupfgyge, das Trio Grande, natürlich die Im Bode Bänd mit Walter Lietha und Max Lässer, die Husmusig Jeremias, mit Verlaub auch Hostettler/Diem/Mentha und sicher ein Dutzend andere inkl. die Stars der ersten Stunde: Bluegrass Blossoms, Country Ramblers, Skibbereen, George Tempest mit seinen Formationen, Maria Kägi, zudem Bazoche, Claude Rochat, Sarclon und Tetralyre aus der Romandie. - Die Aufzählung ist nicht abschliessend!
Das war erfreulich, doch konnten wir die Halbprofis auf der Lenzburg nicht gebührend zum Zug kommen lassen und entlöhnen.

DIE LENZBURG UND DAS SCHWEIZER FERNSEHEN

Beim Schweizer Fernsehen hatte man inzwischen auch wahrgenommen, was auf der Lenzburg abging. Musikredaktor Mani Hildebrand wollte da einsteigen, indem SF DRS am Lenzburg-Festival jeweils ein Dutzend sehenswerter junger Gruppen/Musiker aufnehmen wollte, nicht bei deren Bühnenauftritt, sondern auf einer eigenen kleinen Fernsehbühne hinten auf dem Gelände, wo dies den Programmablauf nicht stören würde. Moderator wäre Urs Böschenstein, der Minnesänger mit dem Zwirbelschnauz. Die Clips würden nicht als Festival-Bericht ausgestrahlt, sondern bei Bedarf als Füller zwischen beliebigen Sendungen eingeschoben werden.
Das Fernsehen war noch Staatsmonopol. Seit einigen Jahren in Farbe. 1975 hatte das SF DRS einen Bericht über die Lenzburg gedreht, moderiert von Benno Kälin. Das hatte uns gefreut. In diesem Jahr waren zwei VJs des Saarländischen Rundfunks unsere Gäste, gern gesehen - doch eine längerfristige Zusammenarbeit mit dem Schweizer Fernsehen war ein anderes Kaliber. Das mussten wir im OK besprechen.

Die Lenzburg war auf Propaganda im TV nicht angewiesen. Sie war ohnehin ausverkauft. Doch für Folkbewegung als Ganzes und für die einzelnen Musiker war es eine Chance. Umgekehrt würde es dem Fernsehprogramm auch gut anstehen.
Da kamen aber auch Bedenken ins Spiel. Der technische Aufwand. Das wäre keine VJ-Reportage, eher eine Materialschlacht. Mit Ton- und Lichtspezialisten und grossen Kameras. Der Zugang zum Schloss war beschwerlich. Auffahrt mit einem Handwagen über den Kopfsteinweg, dann mit dem Hebekran hochziehen. Der Hebekran, das Nadelöhr der Versorgung, war bereits arg ausgelastet. Wie würde sich die TV-Nebenbühne - im Dauereinsatz - auf die Stimmung, auf die vielen spontanen Begegnungen und Jam-Sessions auswirken? Bekäme man nicht immer wieder ein "Psst! Aufnahme!" zu hören? Kämen bei schlechtem Wetter und abends die grossen Scheinwerfer zum Einsatz? - Böschenstein, der vornehmlich in einem Zürcher Nobelhotel auftrat, wäre sicher fähig zu moderieren, er war fachlich und sprachlich unbestritten, hatte nur wenig Bezug zur Folkszene. Er würde mit seinem grossen Schnauz als Affiche für überall verstreute, unangekündigte Folk-Clips bald zum "Mister Folk" werden, zum Aushängeschild der Lenzburg. Das passte nicht.
Das Lenzburg-OK war gespalten. Mit 5:4 Stimmen entschieden wir uns zur Absage an das Schweizer Fernsehen. Stattdessen setzten wir einen Workshop an, eine Fernsehdiskussion mit TV-Redaktor Hildebrand, Schweizer Musikern/Liedermachern und zwei OK-Mitgliedern. Ziel war es, eine Form der Zusammenarbeit zu finden.
In der Diskussion legten wir unser Für und Wider dar. Walti Lietha, der wohl angesagteste Schweizer Liedermacher, sagte: Er verzichte darauf, auf Vorrat aufgenommen und dann nach einer Rede von Broger (dem alten Erzkonservativen) als Füller eingeschoben zu werden, das sei entwürdigend. Max Lässer, sein Mitmusiker in der Im Bode Bànd, schlug vor: Das Fernsehen könnte doch jeweils einen Jungfilmer zu einem Lenzburg-Beitrag beauftragen.
Redaktor Hildebrand war offenbar überrascht und sauer, dass jemand die Einladung zu Fernsehauftritten nicht freudig akzeptierte. Vordergründig meinte er, er wolle den Vorschlag prüfen. Nach wenigen Minuten aber schnappte er sich heimlich die Im Bode Bänd und bot ihnen einen separaten TV-Auftritt an. Walti Lietha lehnte ab und berichtete mir davon. Das war das Ende seiner Fernsehkarriere. Selbstredend waren auch die Lenzburg und ich persönlich fürs Fernsehen gestorben.
Mani Hildebrand äusserte sich viele Jahre später bei seiner Pensionierung:
"(...) im Bereich der Liedermacher und der engagierten Musiker waren wirklich viele differenzierte Songs und Meinungen entstanden. Das Problem war nur, dass ich mit den Polit-Barden meist nicht einig wurde, denn sie sahen das Fernsehen oft als Feindbild oder nur als Sprachrohr für ihre Agitation an."
Der TV-Musik-Übervater und die widerborstigen Kinderlein. Mani Hildebrand hat in seiner fast 40-jährigen TV-Karriere jedes Talent sofort erkannt und auch gefördert (Selbsteinschätzung), bloss einmal hat er sich geirrt, als er DJ Bobo bei seinem ersten Kontakt abgelehnt hat. Er hat sich aber bei Bobo entschuldigt, und die beiden sind dicke Freunde geworden. Wir gratulieren.
Übrigens fand zumindest TV RSR bei Daniel Rosselats Paléo Festival in Nyon einen willigen Medienpartner. Extra- Fernsehzelt auf dem riesigen Gelände. Passte besser als die Lenzburg. Ehrlich, ohne Ironie, auch ohne Neid.

Schwerpunktthema waren in diesem Jahr Immigranten-Gruppen. Menschen, die in der Schweiz lebten und hier noch immer die Lieder und Tänze ihrer Heimat pflegten.
Die hier niedergelassenen Musikprofis von Los Kusis (de Bolivia) und der Gruppo Arenas, auch José Barrense-Diaz waren schon früher auf der Lenzburg, nun fanden wir Ungaren, Tibeter, Türken und drei jugoslawische Gruppen, nämlich eine kroatische, eine bosnische und die Jugomelos, die das ganze Land repräsentierten. Türken, Kroaten und Serben hatten je eine Gruppe von Tänzerinnen dabei.

Bei schönem Wetter wär das vermutlich problemlos über die Bühnen gegangen. Aber zum zweitenmal hatten wir auf der Lenzburg Wetterpech, ärger als im Vorjahr. Kein hartnäckiger Dauerregen war's, aber zeitweise schüttete es in Bächen vom Himmel herab. So gleich am frühen Samstagnachmittag, dem Auftrittstermin der Kroaten. Die Musikanten spielten mitreissend gut unter dem Regendach der Hauptbühne. Doch an eine Tanz-Performance im Kies davor war nicht zu denken. Wegen des wie immer gedrängten Programms konnten wir die Darbietung auch nicht verschieben. Der Leiter der Kroaten war ein Hüne in blauem Regenmantel. Padre Rade Vuksic. Er war natürlich unzufrieden. Ich vertröstete ihn auf lichtere Momente während des Weekends. Dann könnte die Gruppe samt Tänzerinnen auf der Plattform vor dem Rittersaal nocht einmal auftreten. Wir würden das auf den grossen Bühnen ankündigen. Improvisieren. Das war aber gar nicht nach dem Gusto der Tänzerinnen. Sie wollten nicht das gesamte Wochehende in ihren Trachten rumlaufen. Trachten ausziehen eine Viertelstunde. Anziehen eine halbe Stunde. Das käme nur in Frage, wenn sie denn ganz sicher auftreten könnten.
Leider blieb das Wetter wechselhaft. Pfützen auf der Plattform. Die Wiese tief, fast sumpfig. Jugomelos und Tibeter konnten gut auftreten. Doch für die Tanzgruppen blieb am Sonntag der Rittersaal die einzige Alternative. Das war nicht so einfach. Die Roadies des bretonischen Folkrockers Dan Ar Braz waren stundenlang mit dem Aufstellen und Verkabeln ihrer Lautsprechertürme und Soundcheck beschäftigt. Nun mussten wir aber die drei Tanzgruppen nach dem Soundcheck der Rocker einschieben. Wir baten die Roadies um Eile, erklärten die Lage. Sie beeilten sich wirklich, und wir hatten für die Tanzgruppen etwa vierzig Minuten Zeit. Die Gruppen würden nicht auf der Bühne tanzen können, da stand das Equipment von Dan Ar Bras. Aber davor müsste es gehen.
Die Türkinnen als erste. Schon bei ihrem Aufmarsch fiel unser Koordinator fast in Ohnmacht. Sie tänzelten in einer Reihe über die Wehrgänge in den Rittersaal, in beiden Händen flammende Tellerchen. Das Holz der Gänge und des Rittersaals war Jahrhunderte alt. Da bestand ein striktes Rauchverbot. Brandgefahr der höchsten Stufe! - Noch mal Glück gehabt. Nach dem Auftritt mussten sie aber auf der Stelle Lichter löschen.
Dann war die Reihe an den Kroaten, der mit Abstand besten Musikgruppe. Die spielten aber nicht. Sie warteten auf ihre Tänzerinnen. Padre Vuksic schien alle Zeit der Welt zu haben, während Herr Cecic, ein Männchen mit schütterem Haar und Regenschirm, zwei Köpfe keiner als der Padre, ungeduldig wurde. Die Wartezeit würde am Ende von seiner Aufführung abgehen. Die Bosnierinnen waren schon einsatzbereit. Herr Cecic verlangte: man solle sie vorziehen. Zudem war er sehr besorgt, dass nun Kroatinnen nach seinen Mädchen in der einzigen Garderobe des Schlosses sassen. Man könne ihnen nicht trauen. - Als weiterhin keine kroatische Tänzerin zu erblicken war, entschied ich mich zusammen mit Kollege Programmkoordinator Urs Eschmann, die bosnische Gruppe auftreten zu lassen. Ich rannte einen gefühlten halben Kilometer über die Wehrgänge runter zur Garderobe. Da sassen die Kroatinnen. Was sie denn da täten? - Sie warteten auf ihren Auftritt. Über eine Leiter könne man durch eine Luke direkt auf die Bühne hochsteigen. Sie warteten auf ein Zeichen. - Zurück in den Rittersaal. Und da sah ich, was geschehen war. Die Luke war mit einem Lautsprecherturm überdeckt. Das sagte ich dem Padre, der mit seinen Leuten umgehend den Turm wegschob. Das wiederum rief die Dan Ar Braz-Roadies auf den Plan, die ihr Soundkonzept bedroht sahen. Die Protagonisten schrien sich an. Schliesslich setzte sich der Padre durch, und die Frauen in kroatischer Tracht entstiegen der Bodenluke, auch sie fluchend. Die bosnische Darbietung litt stark unter dem Tumult, umso mehr als die Kroaten nun unverzüglich mit ihrer Show starten wollten. Herr Cecic wollte die Luke wieder geschlossen sehen und hieb mit seinem Regenschirm auf Padre Vuksic ein.
Ich war ratlos. Da war alles aus dem Ruder gelaufen. Einfach ratlos, enttäuscht und überfordert. Ich schmiss alles hin. Ging runter ins Stapferhaus und schaute mir das Fussball-WM-Finale an. Schande über mein Haupt.
Als die kroatische Truppe das Schloss verliess, verabschiedete ich mich noch von Padre Vuksic, entschudigte mich für die Missgeschicke, wurde übel beschimpft. Schade, schade, schade. Sie waren saugut.

1979

Geladene Gäste:
Caterina Bueno, die Gruppo Emiliano, La Puddica und nochmals La Lionetta aus Italien, Espe, Wunderwald, Holzrädchen, die Eresinger Stub'nmusi und der Gitarrist Peter Finger aus Deutschland, Pijper Cruid aus den Niederlanden, Le Folk de la Rue des Dentelles aus dem Elsass, Folkvind aus Schweden.

Am Gurtenfestival '78 hatte ich mein letztes Konzert mit Tinu Diem und Luc Mentha gegeben. Tinu zog für sein Studium nach Birmingham. Ich schloss mich in München den 'Tonschussern' an, die sich aber leider bald auflösten. So war ich im Sommer '79 wieder zurück in Bern. Mein Buch 'Anderi Lieder' erschien endlich, die Sammlung mit vielen Beiträgen aus der Folkszene und besonders von der Lenzburg.
Das Musik-Ressort hatte ich beim Umzug nach München niedergelegt. Heuer war ich nur bei der Musikauswahl für die Platte dabei. Am suboptimalen Cover bin ich allerdings ganz unschuldig, wie auch an der LP-Musikauswahl vom Gurten.

1980

Das Jahr 1980 stand ganz im Zeichen der neuen Jugendbewegung. Nach einem Bob-Marley-Konzert im Hallenstadion hatten die Proteste vor dem Zürcher Opernhaus in der Nacht auf den 31. Mai ihren Anfang genommen und sich im Juni als Jugend- und Kulturrevolution rasch auf die anderen Schweizer Städte ausgebreitet. Strassenschlachten, aber auch originelle Actions bis hinein ins Fernsehen und damit in die bürgerlichen Wohnstuben liessen bei der Jugend eine grosse Hoffnung aufkeimen.
Das 9. Folkfestival auf der Lenzburg am letzten Juni-Wochenende war längst geplant, konnte programmmässig nicht mehr auf die aktuellen Ereignisse reagieren und fand ohne grosse Begeisterung statt. Unglücklicherweise hatte man in diesem Jahr einen Schwerpunkt auf Tanzmusik gelegt, ein fröhliches Fest sollte es werden. Arg quer in diesen Tagen des Aufbruchs. Einige Musiker:innen wollten nicht auftreten. Gerade in Zürich liess sich in diesem Sommer progressive Musik mit einem "Rückzug" auf ein Schloss nicht vereinbaren.
Last but not least war das Wetter garstig. Man liess 1500 Zuschauer:innen ein, eigentlich zu viele. Jeder überdachte Winkel des Schlosses war mit Musik und Menschen belegt, im Rittersaal drängten sich Programm und Publikum dicht zusammen. Nur ganz selten war an Tanz zu denken.

Internationale Gaste waren wieder Pijper Cruid (NL), Peter Finger (D) und La Lionetta (I), neu Vizöntö aus Ungarn, Cork Pipers aus Irland, Jenny Beeching aus London, Claire aus Paris, Antoinio Breschi aus Italien, und aus Deutschland Walter Mossmann, das Jürgen Slopianka Trio, Störenfried, Holzrädchen und der Instrumentenbauer Tibor Ehlers. - Ich sag mal offen: Definitiv nicht meine Auswahl, abgesehen von ihm ...
Walter Mossmann. Der engagierte Liedermacher aus Freiburg war gewissermassen zum anderthalbten Mal auf der Lenzburg. Bereits 1977 hatte er auf dem Programm gestanden, zog es aber vor, an der gleichzeitigen Demo zum AKW Gösgen mitzumarschieren. Nun standen die Sterne wieder ungut über der Lenzburg. Für Walter war ein Festival mit viel Tanz und Tradition inmitten der Jugendrevolte unerträglich. Er wollte seine Auftrittszeit für eine offene Diskussion über die aktuellen Ereignisse zur Verfügung stellen. Durcheinander. Wir hatten der Schlossverwaltung Lenzburg nach 1977 zusagen müssen, zur aktuellen Politik zwar Lieder, aber keine Diskussionen und Vorträge auf der Bühne anzubieten. Nun beschlossen die Organisatoren an einer hastig einberufenen Krisensitzung, das Hauptbühnenprogramm weiter laufen zu lassen, Walter und seine Diskussion in den verregneten hinteren Schlossgarten zu verweisen. - Der nahm das nicht hin und verliess Schloss Lenzburg unter Protest, mit mit ihm eine Schar Sympathisanten.

Ich selber musizierte nun mit unserer neuen Band Gallis Erbe. Wir traten im überfüllten Stapferhaus auf - ein gutes, stimmiges Konzert, fand ich. Alte Schweizer Lieder mit Harfe und Halszither waren immerhin etwas Neues.
Damit waren wir aber Aussenseiter. Das Lenzburg-Festival 1980 als Ganzes empfand ich als schal, streckenweise langweilig. Peinlich in der Zeit des Umbruchs. Viel zu wenig Lieder und Texte, zu viele Instrumentalisten und Tanzmusik-Gruppen. Es war nicht zu übersehen, dass sich die aufmüpfigen Musiker in diesem besonderen Sommer lieber auf der Strasse zeigten als auf dem Schloss. Andere waren so bekannt und begehrt geworden, dass sie nicht mehr ohne Gage auftreten wollten.
Zum Unglück der Organisatoren kam dazu, dass das Gurtenfestival, unser Partnerfestival bez. Einladung und Auftritte ausländischer Musiker:innen, in diesem Jahr pausierte. Das schränkte die Möglichkeiten von Engagements attraktiver Headliners stark ein.

Zum dritten Mal innert vier Jahren hatte das Lenzburg-Festival Wetterpech. Schlechtwetterprogramm im Rittersaal, Dauerregen, keine Tageskasse, keine Spontanaktionen, musikalische Begegnungen stark eingeschränkt. Schade.
Alles in allem war die Stimmung erstaunlich gut. Doch alle merkten: In diesem besonderen Jahr 1980 musste ein Umbruch kommen.

Das Ende

"Es git wieder e Länzburg, es git wieder eini im 1981, das isch de d Jubiläums-Länzburg, zum zähte Mal Folkfestival hie obe", verabschiedete Speaker Bartley (Ueli Brönnimann) das Publikum 1980 im nicht enden wollenden Applaus nach dem Auftritt der Cork Pipers, dem letzten Lenzburg-Auftritt überhaupt. Dass das Jubiläum nicht mehr zustande kam, lag nicht an der etwas eingetrübten Ausgabe von 1980. Das lag am Kanton Aargau, an der Verwaltung von Schloss Lenzburg.
Die Lenzburg sollte während dreier Jahre renoviert und umgebaut werden. Danach würde die Schlosshof-Wiese zu einem Rosengarten. Anlässe seien dann nur noch im Rittersaal möglich. Ein Schloss mit Museum. Zielpublikum (ab 17 h) Hochzeiten und Firmenanlässe.

Was für Schloss Lenzburg zur finanziellen Erfolgsgeschichte wurde, bedeutete das Aus für die Folkfestivals.
Ein Abschiedsfestival 1981 wäre zwar möglich gewesen, doch nur unter Einschränkungen und Auflagen zum üblichen Mietpreis von 8000 Fr. + ca. 1000 Fr. NK, worauf man verzichtete.

Da stellt sich die Frage, ob das Folkfestival Lenzburg ohne Ausbau und Neuausrichtung des Schlosses überlebt hätte?

Vorab: "Die Lenzburg" war weder pleite, noch fehlte ihr das Publikum. Der Verein hatte solid gewirtschaftet, die Festivals waren stets um ein Mehrfaches überbucht.
Die Folkfestivals auf der Lenzburg waren mit einer gehörigen Portion Spontanität und Idealismus entstanden, organisaniert von Folkmusiker:innen für ebensolche. Auftretende, Organisatoren und zahlreiche Helfer:innen erhielten nur freie Verpflegung, Reisespesen und ein Ticket für Partner oder Partnerin. Das Konzept galt auch für die eingeladenen ausländischen Gastmusiker:innen, bloss lagen bei ihnen die Reisespesen höher, und man bemühte sich um (meist private) Unterkunft und Anschlusskonzerte in der Schweiz.
Im Lauf der Siebzigerjahre hatte sich das Umfeld verändert. Ab 1975 waren - im Sog der Lenzburg - Festivals entstanden, die wesentlich mehr Publikum einlassen konnten, die mit Sponsoren und Defizitgarantien ausgestattet und frei von Platzmieten waren, die auch internationale Stars buchen und gute Gagen bezahlen konnten. Ganz nebenbei erfasste man vielerorts, dass der akustische Folk vor -zig Tausend Fans nicht die allerbeste Bühnenmusik ist. Die Festivals bauten aktuelle Rockbands ins Programm ein und liessen schliesslich die Vorsilbe "Folk-" vor ihren Festivalnamen fallen.

Die Lenzburg blieb bei ihrem Konzept der Freiwilligenarbeit auf und hinter den Bühnen. Angesichts der Schlossmiete, des beschränkten Platzes und des altertümlichen Zugangs mit freischwebendem Kettenlift hätte man weder mit Gagen, noch mit Publikum noch mit Rockifizierung mithalten können.
Sicher zeigte das Lenzburg-Konzept einige Abnützungserscheinungen. Einige Bands, die sich zu Profis oder Halbprofis entwickelt hatten, zogen gut bezahlte Auftritte vor. Einige waren durch individuelle Vorfälle zu Unlenzburgern geworden. Einige fanden, die Lenzburg sei zu sehr vom klassischen British and American Folk abgekommen, andere beklagten, die Lenzburg sei zu konservativ, baue neue Strömungen (insb. Dialekt-Rock) zu wenig ein, oder - top aktuell 1980 - sei als Burg-Festival auf dem Land nicht mehr zeitgemäss.
Erfreulicherweise war jedoch die Zahl der Musiker:innen, die auf der Lenzburg auftreten wollten, nach wie vor gross. Übergross. Da kamen Anmeldungen von Schweizer Volksmusikanten, Liedermachern und Chansonniers, Balkanrythmen, sehr viel italienische Musik aller Art, Flamenco, bayrische Stubnmusi, Swingjazzer, auch Chöre und türkische Trachtentänzerinnen, Kabarettisten. Die Grenzen der Folkmusik wurden nie klar gezogen. Viele Anmeldung gingen aber von Instrumentalisten ein, technisch sauber gespielte Blues- und Ragtime-Standards, alle Jahre wieder, die nun leider - besonders in Zeiten der Jugendrevolte - etwas abgestanden wirkten. Quo vadis, folk? - Eine Grundsatzdiskussion tat Not.

Musiker:innen ok. Publikum ok. Finanzen ok. Eine Weiterführung der Folkfestivals Lenzburg wäre von den Organisatoren abgehangen. Und das war nicht ok. Gleich 5 von 7 erklärten nach dem Festival von 1980 ihren Rücktritt. Bei einem reduzierten Jubiläumsfestival von 1981 hätten sie noch mitgemacht - doch das zerschlug sich an den Konditionen des Schlosses.
Zu diesem Exodus beigetragen hat bestimmt die Jugendbewegung vom Sommer '80.
Was in den Siebzigern als Pioniertat begonnen hatte, als Hoffnung auch eine neue Kultur, zumindest Musikkultur, was Tausende und Zehntausende bewegte, war überholt. Die "Folkies und Chörnlipicker auf der Burg", mittlerweile um die Dreissig und beruflich und familiär eingespannt, gehörten zum mittelalterlichen Eisen. Lieber wollte man sich aufgeschlossenen zeigen, sich der Jugend anschliessen, als die Freizeit eines weiteren Jahrzehnts für die Organisation eines Anlasses auf dieser Burg herzugeben, der zwischen grossen Festivals und neuer Jugendkultur nicht mehr viel bewirken konnte.
Noch wurden einige Bemühungen unternommen, für die Jahre ab 1982 ein neues OK zu bilden. Als kleines, feines, einzigartiges Folkfestival hätte "die Lenzburg" weiter bestehen können. Doch die Aussichten auf drei Jahre Umbau, danach starke Einschränkungen, waren zu viel des Schlechten. Wir beschlossen, unsere geliebte Lenzburg zu begraben und den Verein aufzuösen.

Der Nachlass

Der Verein hatte vorsichtig und schuldenfrei gewirtschaftet (stets ehrenamtlich). Trotz des verregneten letzten Festivals blieb ein Restvermögen von einigen tausend Franken übrig. Das wurde dem Gurtenfestival als Fond für besondere Musikprojekte übergeben.

Der wesentliche Teil des Nachlasses der Folkfestivals auf der Lenzburg war zweifellos die Musik.
Wir beschlossen, die noch vorhandenen Musik-Tonbänder dem Schweizerischen Volksliedarchiv (SVA) in Basel zu übergeben. Mein Vorschlag. Ich wollte vermeiden, dass die Bänder auf den Estrichen der einzelnen OK-Mitglieder langsam zerfielen und die Lenzburg-Musik verloren ging. Dr. Christine Burckhardt-Seebass, Leiterin des SVA, kannte die Lenzburg gut und hatte Interesse an einer Archivierung. Ich wurde mit der Übergabe der Bänder beauftragt.

So präsentierte sich die Ausgangslage:
Unser hervorragender Tontechniker war die ganze Zeit über Beat Hohmann gewesen. Mit der Zeit, als Parallelkonzerte in verschiedenen Räumen liefen, waren einige andere dazugekommen. - Die Hauptaufgabe von Beat H. war die Beschallung des Schlosshofs oder des Rittersaals. Dabei liess er eine grosse Revox-Spule mitlaufen, die im wesentlich zwei Zwecken diente: 1. wünschte Benno Kälin für seinen Lenzburg-Rückblick am Radio Bandmaterial von ausgewählten Musikern, und 2. wünschten die Leute, die die Lenzburg-Platte zusammenstellten, eine Reihe von Aufnahmen. Da die Original-Aufnahmen auf den Studiospulen für gewöhnliche Sterbliche kaum abspielbar waren, kopierte Beat H. die gewünschten Auszüge. War die Auswahl für Radiosendung und Platte getroffen, war der Tontechniker aus seiner Pflicht entlassen. Und weil diese Studiobänder teuer waren und Beat immer mehr Festivals beschallte, benutzte er die Tonbänder wieder und überspielte sie.
Die Originale waren also verloren. Was blieb, waren die zu verschiedenen Zwecken gezogenen Kopien, Auszüge, die ich nun von allen (rezenten und fossilen) Kommitee-Mitgliedern einforderte. Die Workshops, Diskussionen und Vorträge im Stapferhaus waren jeweils vom Schweizer Radio beschallt und aufgenommen worden. Auch diese waren aber, musste ich erfahren, längst überspielt, Bänder wiederverwendet. Mit Speicherplatz wurde in vordigitaler Zeit haushälterisch umgegangen.

So nahm ich dankbar entgegen, was ich kriegen konnte. Das war dann doch eine Kiste voller Tonbänder mit etwa 140 Stunden Musik. Die Aufnahmen waren für 1972 fast vollständig (bloss John Pearse hatte die Aufnahme verboten), auch für 1973, dann aber, als an zwei Tagen auch Parallelkonzerte über die Bühnen gingen, klafften grosse Lücken.
Zusammen mit meiner Partnerin Katharina machte ich mich ans Katalogisieren. Das SVA arbeitete mit Karteikarten. Für jeden Song und jedes Stück mussten wir Ort und Zeit der Aufnahme, Titel, Liedanfang, Urheber und Interpreten angeben - bei Bands all deren Musiker mit Instrumenten. Dabei halfen uns neben den persönlichen Erinnerungen die Programmhefte und sämtliche SUISA-Listen der Lenzburg-Festivals, auf die die Musiker nach ihrem Auftritts jeweils die gespielten Titel eingetragen hatten. Dummerweise war es unter Musikern üblich, dabei lauter Eigenkompositionen anzugeben, um damit einige Franken Tantiemen einzuheimsen Womit die gelben Liste für uns von zweifelhaftem Wert waren. - Liedanfänge ... ja, gerne. Aber bei piemontesischen oder bretonischen Volksliedern verkam das zu einer bloss akustischen Notation.
Nach einem Jahr zwischen Tonbändern, Listen und Karteikarten konnten wir dem SVA ca. 125 Stunden katalogisierte Lenzburg-Musik samt Programmheften überreichen. Die Tonbänder wurden bei 15 Grad sorgfältig eingelagert und standen nun einem interessierten Publikum zum Reinhören und für wissenschaftliche Arbeiten offen.
Bloss ... 35 Jahre lang interessierte sich kein Schwein für die Lenzburg-Tapes.

Die Lenzburg online !

2015 lancierte das SVA ein Projekt zur Digitalisierung der eingelagerten Tonbänder.
Man sammelte Geld und suchte Partner-Organisationen, im Lauf des Jahres 2018 wurden die Bänder bei der Fonoteca Nationale in Lugano digitalisiert (und blieben physisch auch in Lugano). 2019 ist noch einmal eine Serie von Bändern unseres Tontechnikers Dieter Meyer neu aufgetaucht.
2020/21 proportionierte ich die Digitalisate zu einem digitalen Katalog von mp3s, basierend auf unseren alten Listen, doch liess sich mit Hilfe des Internets mancher Song besser eruiren und beschreiben als damals. Auch halfen mir alte Folkmusik-Freunde mit ihren Titel- und Textangaben aus - italienisch, flämisch, tschechisch u.a.m. Merci!

Das SVA hatte den grossen Plan einer Umgestaltung des Schweizerische Volksliedarchivs zu einem Online-Archiv mit der Sammlung Lenzburg als Pilotprojekt.
Im Oktober 2021 gelang der Abschluss eines Kollektivvertrags von SGV und Memoriav mit der SUISA, der die Veröffentlichung des alten, kommerziell kaum mehr relevanten Tonmaterials erlaubte.
Parallel dazu machte sich die kleine Versammlung der Alt-Lenzburg-Organisatoren daran, auch die nicht-akustischen Lenzburg-Archivarien zu sammeln und zu ordnen, d.h. die Fotos, Filme, die Plakate, Protokolle und Korrespondenzen. Diese übergaben wir physisch dem Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich. Deren Digitalisate wurden zu einem Teil des neuen Lenzburg-Online-Archivs.

50 Jahre nach dem ersten Festival wurde am 27. Oktober 2022 die Sammlung Lenzburg als erstes grosses frei zugängliches Online-Musikarchiv in Europa der Öffentlichkeit vorgestellt. Dr. Beat Hohmann referierte über die technischen Aspekte der Festival-Beschallung und -Aufnahmen, ich durfte kurz die Entwicklung und Bedeutung der Festivals aufzeigen und eine Reihe von musikalisch immer noch beeindruckenden Gästen begrüssen: Silvio Ballinari und Urs Klauser, Albin Brun, Dodo Hug und Effizio Contini, Walter Lietha und Töbi Tobler.

Leider haben die Institutionen SVA, SGV, Memoriav und DaSCH die Sammlung Lenzburg nicht rechtzeitig als brauchbares Online-Archiv umsetzen können. So haben wir OK-Lenzburg-Veteranen den Verein Folkfestivals Lenzburg wiederbelebt und das Online-Archiv über unsere Homepage verfügbar gemacht ... na ja, mit Michis Hilfe.

Klick auf die Lenzburg und viel Vergnügen!
P.S. Ergänzungen und Korrekturen sind jederzeit hochwillkommen.


... wenn ich mir nicht irre

Zitat von Sam Hawkins. Nicht von Steven Hawking. Da bin ich ganz sicher.
Und schon daneben. Sam Hawkens und Stephen Hawking heissen die beiden.

Noch viel mehr kann ich mich bei Namen, Zeitangaben, Ablauf der Ereignisse in neun Lenzburg-Jahren irren. Auch wenn ich mir die grösste Mühe gebe: Nach einem halben Jahrhundert muss ich mit Fehlern und Gedächtnislücken rechnen. Vor allem habe ich bestimmt nicht all die vielen guten Seelen, die zum Gelingen der Festivals beigetragen haben, in dem Masse gewürdigt, in dem sie dies verdient hätten. Gewiss habe ich Dinge verpasst, die nicht vergessen gehen sollten.

Bitte sehr: Seid mir nicht böse! Schreibt mir ein Mail, wenn ihr Mängel zu rügen und Ergänzungen anzubringen habt.
Es ist mir ein Anliegen, die Lenzburg-Chronik mit eurer Hilfe zu verbessern.


Quellen

sind die Vorlagen für wissenschaftliche Arbeiten und Publikationen. Ohne sie läuft nichts. Ohne sie versauert der Wissenschaftler wie ein Stürmer im Fussball ohne die Vorlagen eines Passgebers.
Genau wie die Sturmspitze erzielt der Wissenschaftler nicht nach jeder Vorlage ein Tor. Manchmal trifft er trotz guter Vorlagen knapp daneben, verstolpert sie, trifft den Ball nicht richtig. Während beim Fussballer dank Schiedrichter und VAR (na ja ...) bald klar wird, ob er Erfolg hatte, ist das im Rahmen wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Publikationen schwieriger zu erkennen. Selten weist die Redaktion einer Zeitschrift eine Arbeit ab. Meist wird das Werk publiziert. Sei es ein Volltreffer, ein Pfostenschuss oder bloss eine Serie verunglückter Abschlussversuche.
Die Gesetze der Wissenschaften besagen nun, dass die wissenschaftlichen Arbeiten ihrerseits wieder zu zitierfähigen Quellen werden, zu Passgebern für weitere Arbeiten. Ob Torerfolg oder Niete spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist die Reputation des Verfassers. Das Gebot der Quellentreue verlangt sogar, dass der nachfolgende Wissenschaftler die Aussage der Quelle unverändert übernimmt, selbst wenn er daran starke Zweifel hegt. (Das dürfte er zwar thematisieren, tut es aber kaum, weil er dadurch mit dem reputierten Quellengeber in Konflikt geriete.) So trägt fast jeder Baum der wissenschaftlichen Erkenntnis einige faule Früchte, falsche Fakten und Schlüsse - unglücklicherweise wieder Quellen späterer Arbeiten.

Die Folkfestivals auf der Lenzburg waren nur selten zum Thema von Publikationen in volkskundlichen, musik- und sozialhistorischen Fachzeitschrften. Das war auch nicht wesentlich. Jetzt aber, nach fast einem halben Jahrhundert, wo die alten Folkfreunde langsam wegsterben, sind wir dankbar für diese seltenen Arbeiten, die den Folk, seine Sänger, Bands, seine Lokale und Festivals, seine Worte und Klänge der Nachwelt übermitteln. Herzlichen Dank allen, die sich in wissenschaftlichen Gefilden der Folkbewegung gewidmet haben!
Wir haben die alten Lenzburg-Materialien den Archiven übergeben. Das wären dann Primärquellen. Auch mit Zeitzeugen (z.B. uns alten Lenzburgern) liesse sich arbeiten, wenn unsere Erinnerung auch weniger zählt als Aussagen in wissenschaftlichen Publikationen. Und - man müsste die wirklichen Zeitzeugen befragen, nicht z.B. (so geschehen) Polo Hofer, der zwar stets prominent und gerne Auskunft gab, aber nie auf der Lenzburg war.

Es ist anzunehmen, dass sich Nachgeborene, die auf die Folk-Zeit zurückblicken, besonders wenn dies in wissenschaftlichem Rahmen geschieht, stark auf die wenigen Publikationen beziehen werden, aus solchen Quellen zitieren und aus dem Mix einige neue Schlüsse allgemeiner Art ziehen werden. Kolportierte Irrtümer miteingeschlossen.
So erlaubt mir bitte zum Schluss, einige dieser faulen Früchte vom Baum der wissenschaftlichen Erkenntnis als solche zu kennzeichnen. Ohne Quellen-Nennung, ohne Hader, ohne böse Gedanken. Nur in der Hoffnung, einige Irrtümer zu berichtigen:


Nein. Das Folkfestival Lenzburg entstand nicht nach dem Vorbild der deutschen Burg-Waldeck-Festivals. Die Lenzburg-Initianten waren auf die anglo-amerikanische Musik Folkmusic fokussiert, das Festival entstand sehr spontan. Später versuchte man bewusst, den Spaltpilz der Waldeck und anderer deutscher Festivals (Ingelheim - Open Ohr Mainz), die Trennung zwischen Tradition, Tanz, Gemüt und politischem Lied zu vermeiden.
Auch an den anderen Schweizer Festivals kam es bis 1980 nie zu einer solchen Trennung.

Dass das Folkfestval Lenzburg 1972 gleichzeitig mit dem Folk und Blues Festival auf dem Bachtel gestartet habe und 1977 im Gurten aufgegangen sei - nee, liebe Leute, eher nicht.

Dass die jungen Schweizer in den ersten Lenzburgjahren fast nur Lieder von Woody Guthrie und Bob Dylan gesungen hätten, ist falsch - und auch ganz ordentlich diffamierend. Wir waren doch schon 1972 viel weiter!
Auf Lenzburg 1 gab's gerade mal einen Guthrie-Song zu hören (Silvio Ballinari mit dem Car-Car-Song), zwei Dylan-Songs ('Oxford Town' und Kathryn & Matthew Gurewitsch mit einer eigenen Version von 'This Wheel's On Fire'). Daneben einiges von Tom Paxton, Leonard Cohen, Melanie, Mississippi John Hurt, Country Joe, u.a.m. Bluegrass-Virtuosen waren gut vertreten, irische Songs in sehr unterschiedlicher Weise (auf hohem Niveau!) durch Skibbereen und das Basler Fullhouse, Troubadix mit historischen Instrumenten, Chlöisu Friedli mit altem Piano-Blues, Maria Kägi mit eigenen Songs in Englisch, Dick Watts und George Tempest vertraten authentisch die britischen Songs, Gabriel sang Biermann und Degenhardt, ich in berndeutsch.
Pure Vielfalt. Wenn man etwas kritisieren will: Klar mehrheitlich in englischer Sprache.

Dass der hinreissend vorgetragene Folk-Rock der Etchingham Steamband 1975 wenig Echo fand, viel weniger als die "puristischen" irischen Gruppen im Vorjahr, zeige, dass man auf der Lenzburg nicht die Veränderung suchte.
Einschätzungen in Ehren, doch das kann man so nicht stehen lassen.
Planxty waren 1974 die Supergruppe der neuen irischen Folkmusic. Sie waren unsere erste Gast-Band, die mehr als Bluegrass spielte. Ihr verdienter Erfolg war wegweisend für die Entwicklung der Lenzburg, weg vom britisch-amerikanischen Folk- und Country-Festival.
Im Jahr darauf war die Gästeliste schon bunter. Kontinentaleuropäische Bands traten auf, Rum aus Belgien, An Triskell aus der Bretagne, dazu kamen die neuen Liedermacher, der bekannteste Hannes Wader. Auch einige Schweizer prägten die Lenzburg 1975 (siehe Jahresabschnitt). Grosse Vielfalt und Qualität, viele Highlights. Die Etchingham Steam Band war die Band der Grand Old Lady des englischen Folk, Shirley Collins, und ihres Manns, des Bassisten Ashley Hutchings. Trotz Ashleys Vergangenheit bei diversen Folkrock-Gruppen musizierte die Etchingham Steam Band rein akustisch. Die geradlinig vorgetragenen englischen Traditionals wurden mit dem Akkordeon (Ian Holder) ausgeprägt rhythmisch untermalt, kein Wunder bei einem Bassisten als Bandleader. Die Truppe aus Etchingham hatte grossen Erfolg auf der Lenzburg und spielte sogar ausser Programm im Rittersaal zum Tanz auf. Die grosse blonde Shirley Collins mit ihrer klaren Stimme bleibt unvergessen. - Stilitisch, das sei zugegeben, prägte die Band die Lenzburg weniger als Planxty im Jahr zuvor.
Die erste Folkrock-Band auf der Lenzburg waren Skibbereen, die 1974 mit lauter elektrischen Saiteninstrumenten auftraten. Falls man das Schlagzeug zum Kriterium der Rockability macht, gebührt die Ehre der Im Bode Band mit Drummer Düde Dürst 1976. Die spielten allerdings die Songs von Walter Lietha, nichts Traditionelles.
1977 nahm man die Hamburger Mittelalter-Rockband Ougenweide ins Programm auf. Ein riskantes Unterfangen, das nur gut gehen konnte, wenn sich die Band den topografischen Gegebenheiten der Lenzburg anpasste und mit Minimal-Equipment anreiste (mit Handkarren und Kettenlift den Schlossweg hoch ... und spätabends wieder runter) und wenn das Wetter mitspielte. Beides war leider nicht der Fall. Der Ougenweide-LkW stand am Fuss des Schlossbergs im Regen und kehrte nach einer kurzen Lagebesprechung gleich wieder um. Auf dem Gurten klappte es am folgenden Weekend besser.
1978 spielten die Albion Band und Dan Ar Braz auf der Burg. Albion-Bandleader Ashley Hutchings kannte das Schloss von seinem Auftritt mit der Etchingham Steam Band her und war gewarnt. Die Bretonen um Dan Ar Braz mussten wegen Regens im Rittersaal aufbauen und spielen. Lautsprechertürme, ein ziemlicher Krampf, es wurde räumlich und zeitlich eng, aber es ging.
Nein, die Lenzburg verschloss sich nicht der Strömung des Folk-Rocks. Aber andere, grössere Festivalgelände waren für solche Acts besser geeignet. Das mussten wir neidlos anerkennen.
P.S. Die Präsenz eines Schlagzeugs ist nicht mit Innovation und musikalischem Fortschritt gleichzusetzen.

Nein. "Folk-Puristen", die den reinen, echten Folk von stilfremden Elementen befreien wollten, die Rock-Elemente ebenso ablehnten wie Protestlieder, waren auf der Lenzburg nicht stark vertreten. Klar gesagt: Ich habe nie einen solchen angetroffen. Und als Leiter des Ressorts "Musik" müsste ich doch erfahren haben, wenn solches stark diskutiert worden wäre und zum sogenannten Puristenstreit geführt hätte.
Die Lenzburg entwickelte sich in den Siebzigerjahren vom anglo-amerikanisch dominierten Folktreff zu einem Wochende von grosser instrumentaler, stilistischer und sprachlicher Vielfalt. Die Organisatoren setzten Impulse, knüpften Kontakte. Doch die Entwicklung der Folkszene ging von den Musiker:innen aus. Die Lenzburg begrüsste deren Eigeninitiative bis an die Grenze des Machbaren. Wenn wir Neues ernst nehmen und fördern wollten, konnten wir die Prime Time auf der Hauptbühne nicht immer wieder mit den Pionieren der Folkmusik besetzen. Die Bluegrass-Virtuosen und British Folksingers von 1972 mussten ihren Status als Festival-Highlights zeitweise anderen Gruppen und Stilrichtungen überlassen. Das fiel ihnen schwer, begreiflicherweise - hatten sie sich doch in ihrem Bereich auch weiter verbessert und verfügten über eine beträchtliche Fangemeinde. Doch ein Puristenstreit war das nicht, mit Verlaub. Uns allen war klar, dass die Lenzburg neuen Tendenzen offen stehen sollte.

Dass man auf der Lenzburg aufgrund ideologischer Ressentiments das Fernsehen ausgeschlossen und nur 1978 eine Kurzreportage des Saarländischen Rundfunks zugelassen habe, stimmt so nicht.
Ja, das saarländische Team war auf der Lenzburg, als man das grosse Projekt de Schweizer Fernsehens zurückgewiesen hatte und über eine mögliche Zusammenarbeit diskutierte (siehe Jahr 1978). Zuvor hatte SFDRS 1973 und 1975 je einen Bericht aufgenommen und gesendet. Das OK der Lenzburg war nicht grundsätzlich gegen das Medium Fernsehen eingestellt. Man war sich jedoch bewusst, dass die Stärke des Festivals in seiner Ambiance lag, und damit musste man sorgsam umgehen. Kommerziell konnte man gegenüber Bachtel, Nyon und bald auch dem Gurten nicht bestehen.
Auch die Einschätzung, man habe damals einen Fehler begangen: Die Lenzburg sei längst vergessen, das fernsehfreundliche Paléo Nyon dagegen floriere immer noch, ist nicht haltbar.
Wenn das Folkfestival Lenzburg überlebt hätte, so nicht im grossen Stil wie Nyon oder das neue Gurtenfestival, sondern in bescheidenem Rahmen mit einigen hundert Besuchern bei Konzerten im Rittersaal. Das Paléo Festival hat jährlich um 200'000 Zuschauer. Alle Schlösser der Schweiz zusammen vermöchten die nicht zu fassen.

Die Behauptung, ab 1977 seien keine traditionellen Schweizer Volksmusikgruppen mehr auf die Lenzburg geladen worden, ist schlicht falsch. Im Gegenteil. Den Erfolg der Husmusig Jeremias habe ich beschrieben, und wenn 1980 noch die Kapelle Rundum und die Oberbaselbieter Ländlerkapelle aufs Schloss kamen, so war dies das Allerbeste und das Innovativste, was die volkstümliche Szene zu bieten hatte.

Die Folkbewegung sei infolge allzu dilettantischen Musizierens rasch verschwunden. Das Publikum habe gegen Eintrittsgeld ausgewählte Konzerte professioneller Musiker zurückgefordert, statt sich billig Musik anzuhören, die man eigentlich gar nicht hören wollte, nur weil die Stimmung am Anlass so gut war.
Mit dem stimmigen Folk-Anlass sind sicher in erster Linie die Lenzburg und verwandte Festivals angesprochen. Den Vorwurf des Dilettantismus, den man nicht mehr hören wollte, muss ich klar zurückweisen. Die Musik-Aufnahmen der Lenzburg bewegen sich - gerade auch in den späteren Jahren - auf einem hohen Level. Und der neue Punk-Rock der 80er war lebendig und erfrischend, aber alles andere als professionelle Musik für teures Geld.
An Publikum hat es der Lenzburg nie gefehlt. Ohne den Rauswurf wegen Umbau des Schlosses hätte das Festival sicher überlebt. Wegen seinen Besonderheiten. - Was in der Folge geschrieben steht, ist allerdings richtig: Die Folkbewegung war der Ausdruck eines alternativen, gemeinschaftlichen Lebensgefühls, das sich in den Achtzigern überlebt hatte. Die neuen Forderungen waren: Wir wollen reich und berühmt werden, und zwar subito! Die glatte Antithese zum Understatement und der expliziten Gewaltlosigkeit der meisten Folkies. Gleichzeitig war's ein Kreativitätsschub und eine Aufbruchsstimmung. Die Sounds wurden lauter, urbaner, flippiger, die Teens und Twens hörten ihre Piratensender, DRS3, Walkmans. Aus den 'Folkfestivals' wurden 'Festivals' mit aufwändiger Sound- und Lichttechnik. Noch etwas: Die Folkies kamen nun in die Dreissiger, Phase der Familien- und Lebensplanung. Neue Prioritäten. Viele Gruppen zerfielen. Einige spezialisierten sich auf den Bau alter Instrumente, auf Projekte in experimentellen Bereichen oder lebten ihre Kreativität anderweitig aus, viele wurden zu Musikpädagog:innen. Andere machten weiter wie bisher, kamen aber bei den neuen Medien kaum mehr zum Zuge. Zu wenig jung und sexy.
Das kann man so stehen lassen. Aber doch nicht übertriebener billiger Dilettantismus vs. neue Qualität! Never my love!


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