Der wahre Walter
besteht aus 156 Karten mit je 6 lückenhaften Sätzen.
Die meisten dieser Sätze sind persönliche Aussagen, Einschätzungen, Behauptungen.
EinE SpielerIn, die Sphinx, liest ihre Behauptung vor, wobei an einer entscheidenden Stelle ein schwarzer Balken mit der
Aufschrift WALTER steht.
Alle schreiben nun einen plausiblen WALTER-Text auf - sie versuchen, die Lücke im Sinne der Sphinx zu ergänzen,
zu fälschen.
Die Sphinx sammelt die Fälschungen ein, mischt sie zusammen mit ihrem eigenen (richtigen) WALTER, verliest den Satz nun
mehrmals mit den verschiedenen WALTERN.
Die SpielerInnen geben nun reihum ihren Tipp auf den WAHREN WALTER ab.
Punkte erhält, wer richtig tippt, auch wer mit seiner Fälschung Tipps gewinnen konnte. Sogar die Sphinx wird für
glaubwürdige Selbstdarstellung belohnt.
Der wahre Walter kann mit 4 bis ca. 10 Personen ab 12 Jahren gespielt werden
Spieldauer ca. 45 Minuten, steigt aber mit der Zahl der MitspielerInnen an - eigentlich beliebig.
Am Anfang stand das gute alte Lexikonspiel.
Das schwierigste daran ist heutzutage, ein geeignetes Lexikon aufzutreiben, wenn die Kids überhaupt noch wissen,
was man darunter versteht.
Alle werden mit Schreiber und Papier bewaffnet, eineR klappt das Lexikon auf und sucht einen etwas queren Begriff heraus,
einen mit einem möglichst seltsamen, wenig glaubhaften Erklärungstext. Nachdem abgeklärt ist, dass niemand den Begriff
kennt, schreibt dieseR Eine die korrekte Lexikonerklärung ab - und zwar wörtlich samt allen Fein- und Unklarheiten.
Die anderen fantasieren, schreiben irgendeinen nach Lexikon klingenden Text auf. Der kann beliebig ausführlich oder
auch ganz kurz sein. (Wir hatten z.B. mal den schlichten Abräumer: "Aslib siehe Seekuh").
Alles wird verlesen. Tipps auf die richtige lexikale Definition ergeben einen Punkt, falsche Tipps einen Punkt für den
Fälscher, kein richtiger Tipp: Punkt für den/die VorleserIn.
Wir spielten das Lexikonspiel jahrelang immer wieder in verschiedensten Gruppen. Und wenn kein Lexikon greifbar war,
spielten wir dasselbe Fälscherspiel mit Büchern (Satzanfänge von Jeremias Gotthelf, Albert Camus, Herbert Achternbusch)
oder mit Zeitungsannoncen (Fa. xy sucht per 1. März zuverlässige ... ), auf einer Finnlandreise musste auch mal ein
Fremdwörterbuch herhalten.
Mit der Zeit stiess das Lexikonspiel an seine Grenzen.
Einerseits schrieben wir aus Routine (Bequemlichkeit, Fantasiemangel) immer wieder ähnliche Fälschungen.
Bei mir waren's die in Colmar geborenen und ebda verstorbenen elsässischen Moraltheologen, bei meiner Freundin die
Seemannsaudrücke für "Mann über Bord". Andererseits grinste uns der Eierkopf an. Das Fiasko war für mich eine Spielrunde
mit Chrigi. Chrigi war in einem Bergdorf aufgewachsen, eine intelligente, fantasievolle und witzige junge Frau, aber eben
ohne grosse Schulbildung. Den Lexikonstil bekam sie nicht hin. Ihre Fälschungen waren leicht erkennbar - hier fehlte ein
exaktes Geburtsdatum, da der lateinische Pflanzenname und dort war ein Helvetismus drin. Das war nicht gut.
Chrigi wurde fast nie gewählt, und das hatte sie nicht verdient. Scheiss-Eierkopfspiel!
Eine Erleuchtung brachten die Fichen. Ende der 80er-Jahre wurde ruchbar, dass die Schweizer Behörden um die 900'000
Personen bespitzelt und über sie Akten (eben die "Fichen") angelegt hatten. Ziemlich skandalös, offenbar völlig
überbissen. Eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt, und die Schweiz musste ihren Bürgern nach DDR-Vorbild das Recht
zugestehen, ihre Fichen einzusehen. Auf den Fichen waren, (Zitat Wikipedia:) "die Namen von Drittpersonen abgedeckt (...),
um die Identität der Informanten geheim zu halten." Der für diese Abdeckungspraxis zuständige "Fichenbeauftragte" war ein
Luzerner CVP-Politiker namens Walter Gut. Er leistete volle Arbeit. Meine Fiche war seitenweise völlig eingeschwärzt,
ausser meinem eigenen Namen und manchmal dem Ort des Geschehens war auf einem halben Dutzend Seiten nichts zu
erkennen. Wahrlich sehr, sehr viele schützenswerte Informanten. Und klar war ich keine Ausnahme.
Mit den Original-Fichen Lücken-Raten zu spielen, war unmöglich. Da waren ja nichts als Lücken. Aber wir begannen, mit
persönlichen Aussagen mit schwarzen Balken zu experimentieren. Und weil die Lücken beim Vorlesen irgendwie benannt
werden müssen, bürgerte sich rasch - zu Ehren des Fichendegierten - der Name WALTER ein.
WALTERN hatte gegenüber dem Lexikonspiel einige grosse Vorteile: Die gesuchten Fälschungen waren kürzer, man musste nicht gleich ganze Artikel schreiben. Man musste nicht einen Lexikon-Stil imitieren. Eierkopf-Problem weitgehend behoben. Zudem können die WALTER-Sätze mehrfach verwendet werden. Die "richtigen" Antworten fallen bei wechselnden Sphinxen immer wieder anders aus.
Wir erdachten uns viele WALTER-Behauptungen und testeten das Spiel auch ergiebig aus, bis wir über 900 Sätze beieinander hatten, die in diversen Spielrunden auch witzige Ergebnisse hervorbrachten. Einige Sätze blieben auf der Strecke, weil sie zu häufig die gleichen Antworten ergaben. Z.B. die Frage nach dem gebräuchlichsten Verkehrsmittel im Jahr 2222 - fast durchwegs "Velo/Fahrrad". Unsinn, aber Volkes Stimme mit überwältigendem Mehr.
Nachdem wir mit Ein solches Ding einen Bestseller gelandet hatten, war auch der Ravensburger Verlag auf
unser Projekt aufmerksam geworden. Eine Redaktorin und ein Redaktor kamen extra nach Bern, um mit uns eine Produktion zu
besprechen. Ich erzählte offen von den Wurzeln des WALTER-Spiels, Lexikonspiel (mit seinen Mängeln), Fremdwörter raten u.a.m.
Die Ravenburger Leute zeigten grosses Interesse.
Nach Tagen telefonierte Redaktor Bertram Kaes: Sie möchten die individuellen WALTER-Fragen in ein grösseres Brettspiel
einbauen, zusammen mit anderen genannten Kategorien, den Fremdwörtern und vereinfachten Lexikonfragen. Mein Einwand, dass
wir sehr viele gute, lange ausgetestete WALTER-Fragen hätten, und dass diese mehr hergäben als Richtig/falsch-Fragen,
weil persönlich und mehrfach verwendbar, fand kein Gehör.
Als mir der Redaktor bei einem weiteren Treffen zum Thema der Fragen-Qualität erläuterte, dass er pro Kategorie bloss
wenige Musterfragen vorgebe, der Rest werde den Medienpartnern der Illustrierten Die Bunte überlassen, wollte
ich mit diesem Ravensburger Projekt nichts mehr zu tun haben. So erschien bei uns der kleine Wahre Walter,
bei Ravenburger sein grosser Bruder Nobody is perfect. Der offensichtliche Ideenklau war den Ravensburgern nicht
geheuer. Der (neu eingestellte) Redaktor Uwe Mölter bot mir Tantiemen von 1 oder 1,5 % von NIP an - aber dann
wäre mein Name auf der Schachtel gestanden, zusammen mit der BUNTEN ... nicht mein Ding. That's all.
Der wahre Walter Jahrgang 1991, kleine Stülpschachtel im Design meiner Fiche, muss sich heute das
Attribut Vintage gefallen lassen. Walter Gut ist längst verstorben, der Fichenskandal in Zeiten neuen Sicherheitshypes
verdrängt und vergessen.
Die aktuelle Auflage erscheint in regalkonformer Schachtel mit etwas mehr Luft drin, die WALTER-Behauptungen sind überholt,
insb. veraltete Technik und Personen haben Neuem weichen müssen. Auch einige neue Ideen sind mit drin, versprochen!
Wer den wahren Walter mag, sollte sich auch mal an unserem Wie ich die Welt sehe versuchen.
WidWs funktioniert auf dem gleichen Spielprizip (aus der eigenen Schublade darf man sich ja ungestraft bedienen, nicht!?),
die Statements mit Textlücke sind bildhafter. Grosser Unterschied: Die Sphinx selber füllt die Lücke nicht. Sie wählt
aber die "beste", die ihr gefälligste Antwort aus. Und ... ach ja! Die SpielerInnen sind etwas eingeschränkt bei ihren
Antworten. Sie wählen aus einem Dutzend Es-Kärtchen dasjenige aus, das vielleicht, um die Ecke gedacht, passen könnte.
Meist eher irrwitzig als wirklich treffend.
Meine Bedenken wegen des alten Lexikonspiels habe ich genügend begründet.
Nun gibt's aber Wikipedia!
Wiki bietet gegenüber dem Lexikon einige Vorteile für ein Fälscher/Ratespiel:
- die Wikipedia-Seiten sind (mit wenigen Ausnahmen) wesentlich ausführlicher als Lexikoneinträge. Hier kann man nach einzelnen Sätzen statt nach dem gesamten Text fragen. Das macht die Sache vielfältiger und fantasievoller, denn der gewählte - oder gefälschte? - Satz muss nicht unbedingt einen erkennbaren Zusammenhang zum Titel haben. Auch bekannte Begriffe können so bespielt werden. Wir hatten z.B. den Begriff "Feld" (Klammern dahinter werden nicht verlesen). Die Fälschungen reichten vom Ackerbau über Spiele bis zur Teilchenphysik.
- Wikipedia hat sehr viele Autoren. Da ist kein einheitlicher Stil auszumachen. Manche Sätze klingen recht hölzern oder falsch. Und sind dann eben trotzdem richtig. Ein Germanist hat da kaum bildungsbedingte Vorteile.
Der wahre Wikinger Spielanleitung
Musterfälschung - LANGNAUER KERAMIK
Die klassischen Muster - blaue Äpfelchen auf weisser Glasur oder gelbe Birnen auf Terracotta - wichen mit den Jahren
Fantasiesujets wie schwarzer Puck auf weissem Hintergrund oder braunes Muneli auf grüner Glasur.
Viel Spass!